shipspotter96 hat geschrieben: ↑Sa 12. Jun 2021, 20:47
Tim S. hat geschrieben: ↑Do 18. Mär 2021, 09:36
Ehrlich gesagt ist mir nicht wirklich klar, warum die mit Abstand plausibelste These des versagenden Bugvisiers immer wieder in Zweifel gezogen wird. Alle Zeugenaussagen deuten auf ein solches Ereignis, und es macht technisch ja auch Sinn.
Die Frage ist, was unter einem "versagenden Bugvisier" zu verstehen ist. Da gibt's ja auch verschiedene Theorien. Baumängel, mangelnde Wartung, Sprengung. Wobei: Dass das Bugvisier den damaligen Vorgaben entsprach und Bureau Veritas und der Meyer Werft deshalb kein Vorwurf zu machen ist, scheint inzwischen auch festzustehen. Was nicht heisst, dass das Bugvisier letztendlich doch mangelhaft war (mangelnde Wartung, die damaligen Anforderungen waren nicht ausreichend, u.ä.)
Die Abläufe zum Versagen des Bugvisiers und der Rampe sind gut in einer Dissertation beschrieben:
https://d-nb.info/997688971/34
Ab Seite 28 der Datei sind die Abläufe unter
3.3 Sequence of Bow Ramp Opening beschrieben.
Um das Visier zu öffnen, war keine Sprengung erforderlich, die BV Bemessungsangaben waren um mindestens den Faktor 2 kleiner als die tatsächlich aufgetretenen Kräfte.
Nach heutigen Wissensstand war das Bugvisier mangelhaft:
- Bemessungsvorgaben von BV viel zu gering
- Die Rampenonstruktion entsprach nicht den damals gültigen Solas-Vorschriften für uneingeschränkte Fahrt, s. Dissertation S. 27 ***
- Die Visierkonstruktion war schlecht gewartet
***Die ESTONIA war zwar für uneingeschränkte Fahrt klassifiziert, sie war aber ursprünglich für küstennahen Einsatz gebaut worden. Zu der Zeit waren nach SOLAS auch schon Kollisionsschotts erforderlich. Diese wurden für küstennahe Verkehre von den finnischen und schwedischen Behörden nicht für erforderlich gehalten und dementsprechend oft weggelassen. Eine Rampe ist als Kollisionsschott zugelassen, nur saß sie nach SOLAS Richtlinien bei der Estonie zu weit vorne. Bei anderen Schiffen der gleichen Zeit ist eine Barriere eingebaut, die nur für 2 m statischen Wasserdruck ausgelegt wurden. Die SOLAS Forderungen waren damals nicht in den Bauvorschriften der Klassifizierungsgesellschaften enthalten und wurden auch nicht von BV geprüft.
Quelle Final Report der JAIC Chapter 18, "COMPLIANCE WITH COLLISION BULKHEAD REQUIREMENTS":
https://onse.fi/estonia/chapt18.html
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Ich verspreche mir nicht großartige neue Erkenntnisse. Die Untersuchungen des JAIC, Prof. Krüger, die Dissertation haben alle eine übereinstimmende, technisch schlüssige Erklärung für den Untergang geliefert. Sollten das neu gefundene Loch und evtuelle weitere Untersuchungsergebnisse in dieses Bild passen, sehe ich nicht, dass die vielen vermuteten Ungereimtheiten z.B. bezüglich Ladung aufgedeckt werden. Einzelne Länder hatten damals jedes Interesse sie unter der Decke zu halten. Warum sollte es jetzt anders sein.
Laut Prof. Krüger passt das neuentdeckte Loch durchaus in die Abläufe, die zum Untergang führten. In einem NDR-Bericht geht er davon aus, dass das Loch mit hoher Wahrscheinlichkeit vom abgerissenen ca. 80 t schweren Bugvisier verursacht wurde. Als primäre Ursache scheide das Loch aus, da es weitgehend über Wasser liegt.
https://www.ndr.de/nachrichten/schleswi ... ia248.html
Waren wir also ab, ob die neue Untersuchung zu einem anderen Ergebnis führt.
Gruß, Volker